Liebe Gestalter*innen,

bei der Diskussion um nichtbinäre oder gendersensible Sprachhandlungen geht es heute eher um das Wie als um das Ob oder das Warum. Die Typografie ist nur selten Teil des Diskurses, dabei beeinflusst sie den Leseprozess enorm. Dieser Leitfaden dient als Einführung in den (mikro-)typografischen Umgang mit nicht-binären Sprachformen.

Bachelorprojekt
Leipzig, 2018 bis 2019


Geschlechter­sensible Sprache meint den eindeutigen, repräsentativen und anti-diskrimi­nierenden Sprach­gebrauch. Es sollen alle Geschlechts­identitäten gleichermaßen sichtbar und wertschätzend angesprochen werden. Über geschlechter­sensible Sprache wird kontrovers diskutiert. Die feministische Linguistik vertritt die Ansicht, dass historisch bedingt eine sprachliche Benach­teiligung  besteht. Das generische Maskulinum kann sich zwar rein sprach­wissenschaftlich auf alle Geschlechter beziehen, dennoch wird nach­gewiesener­maßen bei der Verwendung des generischen Maskulinums vor allem die Rede von Männern interpretiert.

Die Zahl gängiger Strategien ist vielfältig. Sie können Geschlechter sichtbar machen, eine Vielfalt aufzeigen oder neutralisieren.


Gestalter/-innen, GestalterInnen, Gestalter*innen, Gestalter_innen, Gestalter- und Gestalterinnen, 


Der Text fokussiert sich auf die nichtbinären Sprachformen, schließt also bewusst die Formen aus, die lediglich Frauen und Männer sichtbar machen.



Die Aufgabe der Gestaltung liegt meistens darin, eine Botschaft mit gestalterischen Mitteln wirkungsvoll zu kommunizieren. Der Designer Otl Aicher sieht aber auch eine Ver­ant­wortung der Gestaltenden gegenüber den Inhalten: »[Die] Typograf[ie] [...] kann Informa­tionen manipulieren, verschönern, oder [sie] kann auf ihren Aussagewert pochen. [Sie] kann verhindern, dass wir getäuscht oder abgelenkt werden. Also kann [sie] ein Optimum an Mittei­lung suchen oder ein Optimum an Auftritt und Erscheinung. Das macht [die] Tätigkeit poli­tisch.« Wie politisch Gestaltende agieren, ist wiederum eine Frage der Haltung. Letzendlich braucht es eine kollaborative Zusammen­arbeit – die Gestaltungs­arbeit wird dann zur kollaborativen Tätigkeit, wenn der Gestaltende und Inhalts­gebende Hand in Hand miteinander arbeiten.

Konkret ergibt sich mit der Ortho­typografie eine Verbindung zwischen Recht­schreibung, Orthografie und Typografie. Die Ortho­typo­grafie legt typografische Regeln für bestimmte Bereiche der Detailtypografie fest, zum Beispiel Satzdetails wie der Umgang mit Gedan­ken- oder Bindestrichen, Schrägstrichen oder Klammern. Manche ortho­grafische Re­geln können wiederum erst mithilfe der Typo­grafie realisiert werden. So ist beispiels­weise der Genderstern auch ein typo­gra­fisches Mittel. Diese typografischen Regeln bestehen im Sinne der Lesbarkeit – sie sind also auch auf gendersensible Sprache anwendbar.



Gegenpositionen der geschlechtersensiblen Sprache werden häufig damit begründet, dass die Lesbarkeit oder der Lesefluss ver­schlech­tert werde.

Die Sprachwissenschaft beschreibt mit dem Begriff »Lesbarkeit« die Verständ­lich­keit des Textes auf sprachlicher Ebene. In der Gestaltung meint der Begriff meistens, inwiefern Typografie das Lesen erleichtert oder er­schwert. Im Idealfall trägt demnach eine gute Typografie zum Verständnis eines Textes bei. Allgemein gelte laut den Typografen Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman, dass ein Text gut lesbar sei, wenn die lesende Per­son »nicht bemerkt, dass [sie] liest«. Schlecht lesbar sei ein Text, wenn unbewusst »ein Teil der Aufmerksamkeit von der Erfassung und gedanklichen Bearbeitung des Inhaltes abge­lenkt und der Entzifferung zugewandt« werden müsse.

Aus sprachlicher Sicht könnten die teilweise größere Komplexität geschlechter­gerechter Formu­lierungen und die geringere Vertrautheit dieser Strategien zu einer schlechteren Verar­beitung führen. Aus typografischer Sicht gibt es auch andere Anhaltspunkte, die auf die Gendergap oder den Genderstern übertragen werden können. Ohne ausreichende Studien kann diese Frage allerdings nicht beantwortet werden – leider gibt es bisher nur wenige, die sich mit dieser Thematik auseinander setzen. Es ist also nur möglich, Vermutungen aufzu­stellen, die sich auf die Lesbarkeits­forschung stützen.

Einen schlechteren Lesefluss durch die Gendergap oder den Genderstern kann zum Beispiel damit begründet werden, dass der Abstand, der durch den Unterstrich oder den Stern entsteht, den einheitlichen Rhythmus eines Wortes durchbricht und so den Lesefluss verschlechtert. Laut Antonia M. Cornelius, der Autorin des Fachbuches »Buchstaben im Kopf«, schaffe erst ein regelmäßiger Rhythmus von Zeichen­flächen und Weißräumen aus leser­lichen Einzelzeichen eine gut lesbare Schrift: »Je einheitlicher [der] Takt ist, desto gleichmäßiger erscheint der Grauwert eines gesetzten Textes – desto besser ist die Lesbar­keit.« Bei zu großen Zwischen­räumen zwischen den Buchstaben (zum Beispiel durch die Gendergap oder den Genderstern) entsteht mehr Weißraum. Cornelius beschreibt diese Weißräume als »weiße Löcher«. Weil diese Unebenheiten die Aufmerksamkeit des Auges auf sich ziehen, wird der Lesefluss gestört. Wenn der Abstand zwischen den Buchstaben zu groß ist, verliert das Wort an Zusammenhalt und fällt auseinander.  Laut Cornelius würde das auch den Wortzwischenräumen erschweren, sich hervorzuheben.

Außerdem wird der gewohnte Lesevorgang durch den erhöhten Weißraum, den Gendergap und Genderstern mit sich bringen, gestört. Weil der Bereich des scharfen Sehens ist sehr klein, deswegen springt das Auge permanent in sogenannten »Sakkaden« über den Text. Diese Sakkaden werden durch »Fixationen« unter­brochen. In den Momenten der Fixationen werden die Buchstaben und Wörter wahr­ge­nommen. Die Sprünge zurück, die das Gelesene bei Unklarheiten überprüfen, werden »Regression« genannt. Im peripheren Bereich – der Bereich, der sich außerhalb des Seh­be­reiches der Fixation befindet, werden lediglich Wortabstände wahrgenommen. Mit diesen wird die Position der nächsten Fixation geplant. Laut Cornelius sei ein ausreichender Wort­ab­stand sehr wichtig, um diese Planung zu unter­stützen. Außerdem muss sich der Wort­abstand ausreichend von den Weißräumen innerhalb eines Wortes abheben. Daraus lässt sich ableiten,  dass wahrscheinlich der Prozess der Fixation durch die Gendergap oder den Gen­der­stern gestört wird. Vor allem der Unter­strich (der im üblichen Gebrauch einen Ersatz für Leerzeichen darstellt) schafft einen Weiß­raum innerhalb eines Wortes, der einem Leerzeichen gleichkommt. Solche Abstände gibt es zwischen Buch­staben üblicherweise nicht.

Annehmen können wir außerdem, dass Wörter mit einer Gendergap oder einem Genderstern schlechter lesbar sind, weil hier eine Transfer­leistung vom Gehirn verlangt wird: Beim Lesen werden verschiedene Hirnregionen mit­einan­der verknüpft. Um die visuellen Eingangs­signale des Wortes mit dem Sinn und der Aus­sprache zu verbinden, werden die Sehareale mit den Spracharealen verbunden. Bei der Erschließung des Sinns von gendersensibler Sprache wird eine Transferleistung vom Gehirn verlangt, weil das Wort (beispielsweise Designer*­innen) für Menschen verschiedener Geschlechtsidentität (Designerinnen, Designer oder »Menschen, die designen«?) steht. Viele wissen außerdem nicht, wie gendersensible Sprache ausgesprochen wird, denn die Aus­sprache ist im geschriebenen Wort nicht direkt ersichtlich. Vermutlich erschwert auch die »geringere Vertrautheit« der gender­sensi­blen Sprache diesen Transferprozess.

Aus diesen Erläuterungen kann abgeleitet werden, dass es für die Typografie und Gestal­tung vor allem eine Möglichkeit gibt, den Lese­fluss zu verbessern: Der Weißraum, der durch die Gendergap oder das Gender­stern­chen entsteht, muss entfernt oder verkleinert werden. 



In Satzprogrammen (z.B. Adobe InDesign) ist es zum Beispiel möglich, den Unterstrich zu ver­klei­nern, in dem man ihn horizontal skaliert. So wird der Abstand zwischen dem Buch­staben vor der Gendergap und dem Buch­staben danach verringert. Bei Skalierungen bis etwa 60 % wirkt dieses Prozedere sinnvoll, bei größeren Skalierungen scheint der Unterstrich beinahe zu verschwinden.



Ob somit die kognitive Verwechs­lungs­gefahr zwischen der Gendergap und einem Leer­zeichen verringert wird, ist aber anzuzweifeln. Auch wird die Problematik, dass der Unter­strich bei einer Linksetzung unter der Unter­streichung verschwindet, damit nicht gelöst.

Anzumerken ist außerdem, dass dieser Ansatz die Inter­preta­tions­möglich­keiten der Gender­gap verändert: Bei der Gendergap werden Geschlechts­identitäten jenseits der binären Ordnung als Leerstelle dargestellt, sie finden somit ihren Platz in einer Lücke. Deren Existenz könnte auch verneint werden. Andererseits kann der Unter­strich auch für einen »Freiraum für die Entfaltung neuer Identitäten jenseits der Zweigeschlechtlichkeit« stehen. Wer den Unterstrich aber stark verkleinert, verkleinert also den (ohnehin geringen) Raum, den Geschlechts­identitäten jenseits der binären Ordnung gewährt wird. Dementsprechend ist es aus politischer und gesellschafts­wissen­schaft­licher Sicht ratsam, sich für andere Sprach­­formen zu entscheiden.

Es ist auch nicht ratsam, den Unterstrich durch einen Leerraum zu ersetzen.



Das Wortbild wirkt zwar ästhetischer, die weibliche Endung kann aber als eigen­stän­diges Wort wahrgenommen werden und würde ebenso die Fixation stören. 



Diese Schwierigkeiten sind auch auf den Gen­der­stern übertragbar: laut Antonia M. Cornelius biete erst »ein regelmäßige[r] Rhyth­mus [...] dem Auge ein angenehmes und voraus­seh­bares Bild.« Um den Lesefluss bei gender­sen­sibler Sprache mithilfe des Gender­sterns zu verbessern, können Gestaltende mit verschie­denen typo­grafischen Möglich­keiten spielen.

Zum Beispiel können sie den Asterisk skalieren oder je nach Zeichenumfang einer Schrift eine verkleinerte Version des Zeichens einsetzen.

Das Zeichen stört so weniger den Rhythmus des Weiß­raumes zwischen den Buchstaben, weil der Abstand zwischen dem vorherigen und nachfolgenden Buchstaben verkleinert wird. Der Stern wird somit unauf­fälliger. Zu beachten ist aber, dass eine solche Verklei­nerung (wie auch bei falschen Kapitälchen) zu unterschiedlichen Strichstärken führt – das entspricht nicht den traditionellen typo­gra­fischen Qualitätskriterien.

Alternativ können Designer*innen den Asterisk auch auf die x-Höhe oder mittig der x-Höhe setzen.


Dieser Ansatz sorgt für Ruhe, weil er den Weiß­raum, der sich normalerweise zwischen den Buch­staben und unter dem Stern befände, verkleinert. In den Büchern »
Untenrum frei«
und »
Die letzten Tage des Patriarchats
« von Margarete Stokowski wird die Ober­kante des Gendersterns an der x-Höhe ausgerichtet. Die Autorin erzählte bei ihrer Lesung in Leipzig, dass der Asterisk vom Verlag für sie auf diese Weise angepasst wurde. So würde der Stern weniger aktiv auffallen und Lesende könnten darüber hinweglesen, weil es sich optisch besser einfüge. 

Möglich ist auch, den Genderstern in die Höhe der x-Höhe zu skalieren. 


Außer Frage steht, dass der Stern in der Größe der x-Höhe nicht den »natürlichen« Formen der anderen Buchstaben folgt. Das Zeichen bringt nicht den typischen Rhythmus zwischen weißen Flächen und Zeichenflächen der Buchstaben mit und fällt daher im Wortbild auf. Manchmal finden sich in den Glyphen einer Schrift auch Sternchen mit einer anderen Form. 

Den genannten Vorschlägen ist allerdings gemein, dass sie in der digitalen Gestaltung nur schwierig umsetzbar sind. Es bräuchte dafür ein weiteres Zeichen, zum Beispiel ein Sonder­zeichen »Genderstern«, das einem der zuvor beschriebenen Ansätze folgt und an die Bedür­fnisse im Gebrauch angepasst ist, um Schwie­rig­keiten in der Umsetzung und der Kompa­tibilität zu vermeiden. Zudem folgen Asterisk und Unter­strich nicht den Formen der Buch­staben – deswegen werden die Zeichen immer auffallen. 



Aus den Gründen der Barriere­freiheit scheint der Doppelpunkt den Genderstern langsam abzulösen. In Sprach­assitenz-Pro­grammen ist er nicht als Sonder­zeichen sondern als Satz­zeichen abgespeichert. Er wird deswegen beim Vorlesen oft ignoriert und nicht mitge­lesen. So wird der Lesefluss weniger unter­brochen – vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband werden allerdings alle Formen mit Sonderzeichen abgelehnt.



Der Doppelpunkt bringt außerdem einen anderen Rhythmus aus Weißraum und Zeichen­flächen mit. Deswegen können wir annehmen, dass die Fixation bei dieser nichtbinären Sprach­­form am wenigsten gestört wird. 



Gestaltende können sich vor allem in den Bereichen der Typografie, Lesbarkeit, Ideen­findung, Analyse im interdisziplinären Denken einbringen: Weil die interdisziplinäre Arbeit ein fester Teil der Disziplin ist, können sie gewohnte Denk­muster der gender­sensiblen Sprache aufbrechen und die Problematik visualisieren. So können sie die bestehenden Strategien mithilfe des typografischen Werk­zeugs beurteilen, verbessern. Dafür gibt es mehrere potentielle Ansatzpunkte. Gutes Potential bietet der Genderstern. Diese Stra­tegie schließt alle Geschlechts­identitäten ein, gilt im bisher als repräsentativste Form und kann mit typografischen Mitteln enorm ver­bessert werden. Indem der Genderstern auf die x-Höhe gesetzt wird, wird erreicht, dass sich der Stern besser in das Schriftbild einfügt und somit diejenigen, die sich daran stören, besser darüber hinweg­lesen können. Leider ist die Umsetzung in der digitalen Typo­grafie sehr umständlich. Neues Zukunfts­potential bringt der Doppelpunkt – hier entsteht kein großer Abstand zwischen den Zeichen, zudem kann diese Sprach­form barriere­ärmer sein.

Nicht außer Acht lassen sollten wir, dass der Gendergap und der Genderstern konzipiert wurden, um das binäre Geschlechter­system in der Sprache sichtbar zu machen – ein Ziel kann es also sein, die Lese- und Schreib­gewohn­heiten aktiv zu stören. Verkleinern wir die Gap oder das Sternchen, handeln wir gegen diese Idee. 

Insgesamt müssen wir die Thematik vor allem auch aus  sprach­wissen­schaftlicher und poli­tischer Perspektive sehen. Die Verant­wor­tung für gender­sensible Sprache sollte dem­nach geteilt werden: Wir brauchen eine Zusam­men­arbeit zwischen Germanistik, Gestaltung und Politik. Und wenn wir disku­tieren, sollten wir unbedingt auch beginnen, Menschen mit Ge­schlechts­iden­ti­täten jenseits der binären Ordnung mit einzu­beziehen – denn darum geht es: Menschen sichtbar zu machen und Teil werden zu lassen. 


Quellen

Anja Steinhauer und Gabriele Diewald: »Richtig gendern«

Ulysses, Voelker: »read + play«
Jan Filek: »Read-ability: Typografie und Lesbarkeit«

Antonia M. Cornelius: »Buchstaben im Kopf«
Hans Peter Willberg / Friedrich Forssman: »Lesetypografie«
Ralf De Jong / Friedrich Forssmann: »Detailtypografie«
Anna Dombrowsky im Tagesspiegel: »Sternchensammler*innen«
Ulrich Greiner für ZEIT ONLINE: »Gendern: Uns droht die Sprachzensur«
Friederike Braun et al.: »›Aus Gründen der Verständlichkeit ...‹«
Wikipedia: »Unterstrich«
Annelene Gäckle: »ÜberzeuGENDERe Sprache«
KHSB Berlin: »Leitfaden für eine gendersensible Sprache«
Margarete Stokowski, Doris Akrap: »Margarete Stokowski Die letzten Tage des Patriarchats‹«. Gehalten im Literaturhaus Leipzig


Letztes Update am 04. November 2021,
Erste Veröffentlichung am 17. Februar 2021.